Die Briten haben auch Merkels Alleingänge abgewählt
(Dirk Schümer, Die Welt, 25-06-2016)
Großbritannien verlässt die EU, weil eine Mehrheit das Versagen der Gemeinschaft nicht mehr hinnehmen will. Dazu hat die Kanzlerin mit ihren Alleingängen bei den Flüchtlingen maßgeblich beigetragen.
Der Ausstieg der Briten aus der Europäischen Union bedeutet eine Zeitenwende, vielleicht gar nicht so sehr für Großbritannien, das in der EU nie wirklich heimisch wurde, sondern für das restliche Europa.
Letztlich haben die Bürger zwischen Schottland und den Klippen von Dover nicht nur David Cameron abgewählt, sondern auch die zögerlichen und bornierten Leader der EU, deren Argumente keine Mehrheit hinter sich brachten. Auch ihre Politik des sturen Aussitzens ist jetzt gescheitert.
Denn der bislang größte demokratische Freilandversuch über die Mitgliedschaft im einstmals exklusiven Klub der EU hat dreierlei gezeigt: Erstens ist die EU trotz aller unleugbarer Meriten in ihrem gegenwärtigen Zustand einfach nicht mehr mehrheitsfähig. Darum können die Institutionen nun zweitens nicht so realitätsblind weitermachen wie bisher.
Und drittens hat sich das gegenwärtige Führungspersonal als unfähig erwiesen, der offenkundigen Erosion des größten politischen Projekts der Gegenwart Einhalt zu gebieten. Ihre Strukturprobleme und Krisen sind den professionellen Problemlösern in der Kompromissfabrik EU schlicht über den Kopf gewachsen.
Eigentlich bräuchte die EU jetzt eine Reform an Haupt und Gliedern: eine Straffung der Entscheidungsprozesse, eine Vereinfachung der verwickelten Institutionen, ein Ende der undemokratischen Abläufe durch die Stärkung des Europäischen Parlaments. Und vor allem: Schluss mit der egoistischen Nationenkungelei in den Hauptstädten, um dann hinterher den Schwarzen Peter nach Brüssel zu schieben.
Doch wie soll das jetzt gehen? Wie kann man eine Ruine, die gerade von einigen Bewohnern verlassen wird, in Ruhe runderneuern? Und wie will die Administration in Brüssel bei gewohnt zähen und undurchschaubaren Ausstiegsverhandlungen der kommenden Monate verhindern, dass nun ein Dominoeffekt einsetzt?
Mögen die Berufseuropäer jetzt aus nachvollziehbaren Gründen die Dramatik des Brexit herunterspielen und so professionell wie möglich die Scherben zusammenfegen –nun die britischen Wähler wegen ihres Egoismus, ihrer Kurzsichtigkeit oder ihrer Europamüdigkeit schlechtzumachen ist genau der verkehrte Weg.
Die EU hat durch den Euro an Sympathien verloren
Die Briten verlassen die EU nicht als bornierte Snobs, die es eigentlich nicht so gemeint haben, sondern als stolze Demokraten, die Webfehler und politisches Versagen der EU nicht länger hinnehmen wollen. Nicht sie haben ihr Land in Befürworter und Gegner, Nutznießer und Verlierer, Gestrige und Erneuerer, Nationalisten und Weltbürger tief gespalten. Das hat die EU schon selber geschafft.
Dieselbe Institution, die sich als alternativloses Friedensprojekt mit dem Nobelpreis auszeichnen ließ, hat durch die Chaoswährung des Euro und die Duldung der regellosen Zuwanderung weit über Britannien hinaus dramatisch an Sympathien verloren. Bevor nun die Briten bye-bye sagten, brannte es bereits an allen Ecken.
Und schon die Triumphe der Neonationalisten Orbán und Kaczynski in Ungarn und Polen sowie der Vormarsch der Linkspopulisten von Syriza, 5 Stelle und Podemos in Griechenland, Italien und Spanien haben vorgeführt, wie marode Europas uneinige Union längst geworden ist. Der Brexit ist keine Generalprobe, deren Misslingen die Akteure mit ein paar Retuschen wieder hinbiegen.
Volk und Eliten haben sich voneinander entfernt
Wenn wir Pech haben, spielt das historische Drama bereits im letzten Akt. Genau betrachtet ist der Brexit ohnehin die logische Folge der 2005 in den Niederlanden und Frankreich per Referendum gescheiterten EU-Verfassung. Danach rumpelten die unübersichtlichen Institutionen mehr oder weniger steuerungslos vor sich hin, und die Politiker machten von den ehrgeizigsten Projekten staatlicher Hoheit – Schengen und Euro – keinerlei Abstriche.
Europa sollte, wie Jean-Claude Juncker so offenherzig gesagt hatte, einfach weitermachen, ohne die Bürger unnötig zu fragen. Nun hat man sie gefragt, und es ist klar geworden, wie weit sich Ideal und Wirklichkeit, Eliten und Volk voneinander entfernt haben.
Europa hat sich zu wenig um seine Bürger gekümmert – und nicht umgekehrt. Wenn diese Bürger täglich dabei zusehen können, wie schlecht die EU als Fortentwicklung und Ersatz der hergebrachten Nationen funktioniert, dann dürfen sich die Leader nicht wundern (und schon gar nicht beleidigt sein), wenn immer mehr Menschen das einigermaßen funktionierende Original der wackligen Innovation vorziehen.
Bilder vom Balkan haben den Brexit mitentschieden
Darum – und nicht aus Dummheit und Rückständigkeit – ist ausgerechnet der eigentlich gescheiterte Nationalismus mitten in Europa auf einmal wieder modisch geworden. Der knappe Ausgang, der so vor einem Jahr nicht möglich gewesen wäre, beweist zudem deutlich, dass Angela Merkels Laisser-faire in der Flüchtlingskrise David Cameron die politische Karriere ruiniert hat – und Großbritannien der EU endgültig entfremdete.
Der „Evening Standard“ aus London kennt wie alle anderen Zeitungen nur ein Thema
Zeitungen
Die Bilder vom Balkan und die Exzesse in Köln, die der Ukip-Chef Farage stets genüsslich erwähnte, haben über den Brexit entschieden. Und auch hier gibt es Präzedenzfälle.
Die EU funktioniert seit etwa zehn Jahren nicht mehr richtig und bindet Länder ökonomisch und politisch zusammen, die einfach nicht zusammenpassen. Die märchenhafte Karriere von Alexis Tsipras vom trotzkistischen Spinner zum Premierminister eines bankrotten Euro-Landes verdankt sich dem Scheitern der Einheitswährung in Griechenland. Und der österreichische Kanzler Werner Faymann war der erste, aber nicht der letzte Regierungschef, der der Flüchtlingskrise zum Opfer fiel.
Südeuropäer glauben auch nicht mehr an die EU
Schon an diesem Sonntag muss in Spanien ein halbes Jahr nach den letzten Abstimmungen erneut gewählt werden; die Parteien blockieren sich komplett, nachdem hier die Euro-Krise das Zweiparteiensystem erledigt hat und ein knappes Drittel vor allem junger Bürger in den europafeindlichen Radikalsozialismus der Podemos-Bewegung mehr Hoffnungen setzt als ins hilflose Krisenmanagement in Brüssel und Frankfurt bei der EZB.
Ein Ende ist hier ebenso wenig in Sicht wie in der europäischen Schlüsselnation Frankreich, die seit Monaten im nationalen Ausnahmezustand verwaltet wird, weil islamistische Attentäter auch über die offenen Balkangrenzen kamen und Europas liberale Lebensweise im Kern attackieren konnten. Für eine multiple Systemkrise kommt da allerhand zusammen.
Ist es ein Wunder, wenn bei solchem Versagen einzelne EU-Länder ihre Zuwanderungspolitik ans winzige Mazedonien delegieren und die Schengengrenzen nach Belieben dichtmachen wollen? Ist es ein Wunder, wenn eine ganze Generation hoffnungsloser junger Menschen in Südeuropa keinen Pfifferling mehr auf die EU setzt?
Augen zu und durch ist keine Option mehr
Wenn die Euro-Krise einzig zum Nutzen der Banken immer weiter gegen alle europäischen Regeln aufgeschoben wird und dabei ihr Leben perspektivlos vergeht? Augen zu und durch ist jetzt keine Option mehr, denn genau mit dieser stupiden Taktik ist die EU in Britannien vor die Wand gefahren.
Derzeit, und das sagt alles, ist die Europäische Union nurmehr in den Ländern Osteuropas beliebt und hoch angesehen. Wo man Angst vor Putins Expansionspolitik hat wie im Baltikum, wo Milliarden an Brüsseler Transfergeld in Infrastruktur und Landwirtschaft fließen wie in Polen oder wo die eigene politische Klasse viel korrupter und undemokratischer agiert als die EU wie in Rumänien oder Bulgarien.
Dort, und leider nur noch dort, strebt man noch in den heruntergekommenen Großklub, der eigentlich die endgültige Friedensordnung des Kontinents garantieren sollte. Doch eine EU, die in Zukunft routiniert Beitrittsverhandlungen mit dem Kosovo und Albanien oder – horribile dictu – mit der Semidiktatur Türkei führt, kann nur dem Kollaps entgegentaumeln.
Juncker hat mit Steuertricks an EU-Demontage mitgewirkt
Die Bürger werden das einfach nicht mitmachen. Und die nächsten Referenden, und diesmal in Kerneuropa, könnten schon vor der Tür stehen, wenn heute schon Neonationalisten wie der Holländer Geert Wilders oder Marine Le Pen in Frankreich lauthals dazu aufrufen, auch ihre Völker demokratisch über die Mitgliedschaft in der EU entscheiden zu lassen.
Wenn die Vorteile des Deals namens EU nicht endlich wie früher in den Köpfen und Portemonnaies aller Bürger ankommen, kann man es nicht mehr als Zukunftsmodell verkaufen.
Dieweil versucht der mächtigste Europäer, Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, sich als Krisenmanager von der traurigen Gestalt. An der Demontage der EU hat er als luxemburgischer Premier mit ausgefeilten Steuertricks zulasten der Nachbarn fleißig mitgearbeitet.
Führungspersonal der EU braucht Generationenwechsel
Er wurde zum Boss der EU nach dem zynischen Muster der früheren Jahre: Wer im eigenen Land demokratisch abgewirtschaftet hat wie Prodi oder Barroso, ist gerade noch gut genug für einen Schreibtisch in Brüssel: Hast du einen Opa, schick ihn nach Europa!
Es ist schon ein Treppenwitz, wenn der Demokrat Cameron abtritt, aber der Funktionär Juncker, dessen müde Vogel-Strauß-Taktik in London krachend gescheitert ist, weiter an seinem Schreibtisch hocken bliebe und sogar die demütigenden Austrittsverhandlungen managen dürfte.
Wenn die EU sich endlich als Demokratie inszenieren will, dann muss das Europaparlament Juncker jetzt absetzen. Und eine Straffung und Belebung des ganzen Projekts muss von einer verjüngten und veränderten Führungsschicht ausgehen. Wann, wenn nicht jetzt?
Britische Wähler haben Merkel abgewählt
Das europäische Desaster in Großbritannien, das bei allem bitteren Beigeschmack eben auch einen Feiertag der Volkssouveränität bedeutet, rückt jetzt die eigentliche, von Medien und Eliten hochgelobte Frau ins Zentrum, die vielen bereits als inoffizielle Kanzlerin von Europa galt.
Angela Merkel machte die Euro-Krise in Griechenland im Doppelpass mit ihrem Finanzminister zur Berliner Chefsache. Indem sie die Regelverletzung bei der Staatsfinanzierung zum Dauerzustand erklärt, kaufte sie sich selbst Zeit – und beschädigt das heikle europäische Währungsprojekt nachhaltig, ohne die Malaise in den Mittelmeerländern strukturell zu lösen.
Und indem Angela Merkel auch in der Migrationskrise die Grenzen im nationalen Alleingang öffnete und dann mit dem türkischen Machthaber Erdogan ebenso im Alleingang eine dubiose Einigung aushandelte, hat sie den Bürgern vorgeführt, was sie wirklich von der EU und ihren Institutionen hält: sehr, sehr wenig.
Für die Chefin einer Partei, die das europäische Erbe von Konrad Adenauer und Helmut Kohl verwaltet, ist das ein Offenbarungseid. Im Grunde haben die britischen Wähler am Donnerstag auch Angela Merkel abgewählt. Bevor sie endgültig zur Totengräberin der EU wird, müsste sie sich an David Cameron ein Beispiel nehmen.
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